Seit sechs Monaten sind wir unterwegs: Von Lüneburg bis in die Blue Mountains in New South Wales, Australien. Momentan sind wir in Vietnam, aber unser Ziel ist es, das erste Mal Weihnachten mit meiner Schwester und ihrer Familie feiern. Und die lebt nunmal in Australien.
Seit genau sechs Monaten reist aber auch der Zweifel mit. Der Zweifel, ob Langzeit- und Fernreisen angesichts von Klimakrise und Massentourismus überhaupt noch vertretbar sind und falls ja, unter welchen Bedingungen? Hier nehme ich Mal auseinander, was es für mich bedeutet, mit dem Zweifel im Gepäck zu reisen.
Da sind zum Beispiel die Fragen nach der Motivation für diese Reise: Ich bin Anfang Mitte dreißig, weiß, weiblich, deutsche Staatsbürgerin aus Mittelschicht und Bildungsbürgertum. Was erhoffe ich mir, abseits davon Menschen zu besuchen, die mir sehr am Herzen liegen, eigentlich von diesem Trip? Immerhin reisen wir ohne zu fliegen, d.h. bis zu den Blue Mountains durchqueren wir halb Europa, ganz Asien und halb Australien. Also: Was treibt mich eigentlich an? Ist es eine Flucht vor etwas oder zu etwas hin? Ist es eher eine Suche nach etwas oder der Wunsch nach purem Hedonismus? Geht es um Lernenwollen und Perspektivwechsel? Treibt mich eine gewisse Wohlstandsmüdigkeit, arbeitsbedingte Erschöpfung und romantisierte Abenteuerlust? Und was davon wäre mit Blick auf die Klimakrise ein legitimer Grund für eine längere Fernreise?
Dazu kommt, Reisen ist Trend: Der Tourismus boomt weltweit, wie die Zahlen der Weltorganisation für Tourismus zeigen. Während 1950 die Zahl der grenzüberschreitenden Reiseankünfte weltweit bei 25 Millionen lag, waren es 2017 1,3 Milliarden. Kein Wunder angesichts seit Jahren günstiger Flugtickets und einer Bilderflut von Urlaubszielen in den sozialen Medien, meint die Journalistin Svenja Keller in ihrem Artikel “Sonne fürs Ego” in der Wochenzeitung der Freitag. Nun fliege ich auf dieser Reise nicht und bei Instagram bin ich auch nicht aktiv. Weiter heißt es, Reisen sei das neue Statussymbol. “In einer Zeit, in der sich die Mittelschicht klassische Investitionen wie Häuser oder teure Autos nicht mehr leisten kann, ist Reisen das neue Statussymbol”, so Svenja Keller. Der Nachhaltigkeitsforscher Felix Ekardt setzt in seinem Artikel “Auf der Suche nach dem verlorenen Sinn” bei Zeit online noch eins obendrauf, in dem er bei Fern- und Langzeitreisen von falschen Freiheitskonzepten und grotesker Glückssuche zu Lasten des Planeten schreibt. Peng! Das hat gesessen! Weniger die Geschichte vom Statussymbol. Statussymbole haben mir noch nie viel bedeutet. Mehr der eklatante Vorwurf das Wohl des eigenen Egos über das des Planeten zu stellen. Wer mich kennt, weiß Nachhaltigkeit als Gerechtigkeitsprinzip bestimmt mein Leben. Beruflich wie privat. Und zwar schon lange bevor es populär wurde. Bin ich trotz alledem einfach einem Trend erlegen? Habe ich mal kurz über Klimakrise, Artensterben und Plastikvermüllung hinweggesehen und einfach nur auf meine eigenen Bedürfnisse gehört? Oder bin ich fein raus, da ich ja nicht fliege? Spätestens seit die Klimakrise nicht mehr fernes Horrorszenario, sondern spür- und sichtbare Gegenwart geworden ist, ist Reisen nicht mehr nur individuelle Entscheidung. Reisen ist politisch. Diese Reise zu machen, bedeutet für mich deshalb auch immer wieder mit dieser Debatte konfrontiert zu sein. Die Journalistin Laura Krzikalla hat da kürzlich sehr passend bei der Süddeutschen getitelt: “Welt entdecken? Oder Klima schützen?” Vielleicht geht ja auch beides, frage ich mich da noch irgendwo kleinlaut in mir drin.
Wie schwierig dieser permanente Spagat ist, habe ich im letzten halben Jahr unserer Reise gemerkt. Ein gutes Beispiel ist da unser Wunsch möglichst nicht zu fliegen. Auf den bisherigen etwa 24.000 Kilometern hat das ziemlich gut geklappt, dank öffentlicher Busse, transsibirischer Eisenbahn, Nachtzügen, Fähren und Taxis. Aber auch Dank ausreichend Zeit und ausreichend Erspartem. Trotzdem: Umweltfreundlicher wäre es gewesen, wir wären einfach für ein halbes Jahr ins Wendland oder nach Hiddensee gezogen oder hätten zumindest nur Deutschland oder Europa bereist. Meine Schwester und Familie besuchen, wäre dann allerdings unmöglich gewesen. Vielleicht wäre es auch umweltfreundlicher gewesen, wir hätten einfach zwei Flüge gebucht, Hamburg-Sydney, Sydney-Hamburg. Dann hätten wir nicht zum Massentourismus auf der Akropolis in Athen und am Kreml in Moskau beigetragen. Wir hätten auch nicht, durch unsere bloße tägliche Ernährung kombiniert mit schlechtem Müllmanagement im jeweiligen Land, zur Vermüllung in Albanien und in der Ha-Long-Bucht in Vietnam oder zur Verschmutzung des Baikalsees in Russland beigetragen. Wir hätten keine Tausenden von Plastikflaschen gebraucht, weil man fast nirgends auf der Welt Wasser aus der Leitung trinken kann. Und wir wären wesentlich schneller wieder zu Hause in unserem - so stolz oder zynisch es klingen mag, ich vermag es nicht passender zu sagen - durchoptimierten Biohaushalt mit Ökostrom, minimalem Müll, Biolebensmitteln vom Hof und mäßigem Konsum gewesen. War es also wirklich besser nicht zu fliegen?
Für die weitere Reise ist außerdem noch offen, wie wir ohne Kerosin von Indonesien nach Australien (und von Australien wieder nach Hause) kommen. Eine Fähre zwischen Bali und Darwin gibt es laut unserer Recherchen nicht. Große Frachter stellen maximal vier Kabinen zu horrenden Preisen für Tourist*innen zur Verfügung. Bleibt noch auf Yachten anzufragen, ob sie uns als unerfahrene Segelgehilfen, denen sehr schnell schlecht wird, mitnehmen, ggf. aufgeteilt auf verschiedene Schiffe, verschiedene Routen zu verschiedenen Zeiten. Oder eben doch Fliegen. Ausnahmsweise. Fazit: Umweltfreundlich reisen, bedeutet in meinen Augen oft, mehr Zeit, mehr Geld und mehr Risiko bei geringem Komfort einzugehen. Und es bedeutet für mich auch, sich selbst immer wieder zu hinterfragen, wie umweltfreundlich die eigene vermeintliche Umweltfreundlichkeit tatsächlich ist und auch auszuhalten, dass es darauf nicht immer klare Antworten gibt.
Zu nachhaltigem Reisen gehört für mich aber nicht nur umweltschonendes, sondern auch sozialverträgliches Reisen. Das hat für mich etwas mit Offenheit, Empathie und Respekt vor allen Menschen auf unserem Trip zu tun. Und mit Selbstreflexion. Naja. Soweit das Ideal. Aber was heißt das jetzt konkret? Wir sind zum Beispiel weitgehend Low-Budget unterwegs. Sparsam reisen schont wunderbar unsere Portemonnaies, trägt aber nicht gerade dazu bei, lokale Ökonomien zu unterstützen. Immerhin versuchen wir bei Lebensmitteln öfter auf dem Markt einzukaufen, um lokale Händler*innen anstelle internationaler Großkonzerne wie Coca Cola, Unilever oder Nestle zu unterstützen. Und natürlich, um gezielter lokale Produkte kennenzulernen und mit Menschen in Kontakt zu kommen. Wenn wir müde und hungrig sind und das kommt auf unserer Reise erstaunlich oft vor, ziehen wir aber doch den Supermarkt vor. Gerade auch, weil es dort ausgeschriebene Fixpreise gibt und uns niemand übers Ohr hauen kann. Außerdem greifen wir für Unterkünfte öfter mal auf Airbnb zurück, weil wir lokale Anbieter*innen auf Vietnamesisch, Mandarin oder Mongolisch schlicht nicht verstehen oder gar nicht erst kennen. Tragen wir damit direkt zum Unterhalt einer Familie oder Einzelperson bei oder doch eher - wie oft in Deutschland - zu Mietpreiserhöhung und Gentrifizierung? Ehrlich gesagt, wir wissen es nicht. Insgesamt versuchen wir, den Menschen unterwegs so wertschätzend wie möglich zu begegnen. Wir versuchen von Grußformeln und Geschichte über Geschlechterrollen bis Glaubensausübung möglichst viel vom jeweiligen Land zu lernen. Am meisten lernen wir dabei aber wohl über uns selbst, über Deutschland, Europa und den so genannten Westen. Indem wir gar nicht anders können, als alles, was wir auf der Reise erleben, mit unseren eigenen Werten und Gewohnheiten abzugleichen. Ab und zu arbeiten wir irgendwo als Freiwillige in der Kinder- und Jugendarbeit oder in der ökologischen Landwirtschaft. Aber ist das schon sozialverträgliches Reisen? Vielleicht. Kann ich den interkulturellen Austausch nicht aber auch genauso in Deutschland suchen? Kann ich mir nicht genauso gut Dokus anschauen, Sachbücher oder Reportagen lesen und interkulturelle Feste oder Kunstinstallationen besuchen, wenn ich etwas über andere Kulturen und über mich selbst lernen will? Ja klar!
Der Zweifel gehört für mich mittlerweile dazu. Ich habe mich schon mehrfach gefragt, ob wir diese Reise nicht abbrechen sollten. Für den Planeten wäre es mit hoher Wahrscheinlichkeit am gesündesten, wären wir einfach zu Hause geblieben. Nur ob es für uns das gesündeste gewesen wäre, ist fraglich. Bei aller Rücksicht, so eine Reise um die halbe Welt ist und bleibt ein Egotrip. Bleibt uns nur, ihn auch weiterhin so umwelt- und sozialverträglich wie möglich zu gestalten.
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