Eigenartig fühlt es sich an gerade unterwegs zu sein. Ein paar einerseits und andererseits dazu:

Einerseits ist es wunderschön: Die meiste Zeit ist der Himmel stinkeblau. Die Sonne scheint. Überall blühen riesige weiße Kalla, am Straßenrand, in den Dünen, im Wald. Es blüht eine wilde Mischung aus Raps und Kohl, Ringelblumen und Obstbäumen, Bärlauch und Spitzwegerich. Die Orangen- und Zitronembäume sind voller Früchte und die Störche kommen gerade.

Andererseits ist es für unsere Plattärsche und Gummibeine ein Bootcamp sondergleichen. Wir hecheln und japsen durch die Landschaft, schlafen täglich 9 Stunden und essen wie die Scheunendrescher. Wir wundern uns was an uns alles Muskelkater haben kann und hängen schon bei Kilometer 35 wie ein Schluck Wasser in der Kurve. Wir sind auch Mal den Tränen nah oder fluchen vor uns hin, strampeln zerknirscht und würden das Rad am liebsten in die nächstbeste Ecke pfeffern.

Einerseits treffen wir in den Herbergen auf eine ebenso platte aber auch gutgelaunte Pilgermeute, freuen uns über die neuen Stempel in unserem Pilgerausweis und darüber, wenn es wie Samt und Seide geschmeidig rollt und wir mit einer gewissen Leichtigkeit die 60 km am Tag vollmachen. Der Weg führt uns durch die hinterletzten Gässchen, wo wir anders nie hingekommen wären.

Andererseits entspannt sich um den Jakobsweg und das Pilgern darauf eine ganze Industrie. Von Herbergen, die sich gegenseitig Konkurrenz machen, über Armbänder, Ohrringe und Schnapsgläsern mit Jakobsmuschel drauf, bis hin zu Apotheken und Massagesalons, die ihr Angebot auf die Fuß- und Knie-, Nacken- und Rückenbeschwerden der Pilger*innen abstimmen. Wir sind in das alles eher reingestolpert. Und für mich fühlt sich diese Industrie fast genauso weird an wie das Pilgern selbst. Wir sind gerade in Santiago de Compostela angekommen, dem Pilgerziel schlechthin. Hier werden Christ*innen schon seit Jahrhunderten ihre Sünden vergeben. Aber was, wenn ich finde, dass ich gar nichts verbrochen habe? Oder ich an den Gott, der hier sein Vergebungsbusiness betreibt, nicht glaube? Es heißt, die säkularen Pilger*innen können sich einfach ein Zertifikat abholen, quasi eine Urkunde dafür, dass sie so weit gelaufen sind. Irgendwie ist die Idee dahinter ja auch schön. In sich zu gehen, runterzukommen, Schmerzen auszuhalten etc. Und genau da machen wir mit und sind genau wie alle anderen Pilger*innen auch. Die übrigens von überall herkommen. Aus Südkorea, Kanada, Indonesien, Italien, Südafrika, Frankreich, Brasilien, Deutschland etc.

Und dann ist da noch Corona. Spanien werde womöglich das nächste Italien. Eventuell werden demnächst auch hier ganze Gebiete abgeriegelt. Bisher besonders stark betroffen ist das Baskenland. Dort, wo wir in ein paar Wochen durchfahren wollen. Ist es bis dahin alles abgeklungen oder noch viel schlimmer? Auch der Umstand, dass wir z.T. in 40 Personenschlafsälen pennen, fühlt sich gerade nicht besonders gut an. Tagsüber befinden wir uns in unserer meditativen Strampelblase und abends brechen dann die immer drastischeren Nachrichten über Corona herein. Ist es alles nur Hysterie? Alles nur Hype? Drüberstehen oder ernstnehmen? Und wenn letzteres, was soll das eigentlich konkret heißen? Wir haben kein Zuhause, in das wir uns zurückziehen können, falls wir uns anstecken. Alles abbrechen und nach Deutschland kommen? Die Schnellzüge in Spanien und Frankreich nehmen angeblich keine Räder mit. Viele Flüge sind gestrichen und Flughäfen und Bahnhöfe außerdem potentielle Verbreitungshubs. Sollen wir lieber auf Zelten umsteigen?

Fragen über Fragen. Wir haben hier erstmal beschlossen einfach weiterzumachen und es zu genießen, aber auch große Unterkünfte zu vermeiden und die Nachrichten weiter zu verfolgen.