Puh. Wir sind in Plovdiv, der zweitgrößten Stadt in Bulgarien. Seit 2,5 Tagen. Und ich muss sagen, die Stadt schafft mich. Ich bin einigermaßen durch 'n Wind und verwirrt.

Auf der einen Seite ist die Stadt eine der ältesten Europas. Wie Rom, errichtet auf sieben Hügeln. Und tatsächlich die Römer selbst waren auch schon hier, wie man an den Überresten des römischen Stadions (mitten in der Fußgänger- und Shoppingzone) und dem römischen Theater (eins der besterhaltensten weltweit) schnell merkt. Auch die Osmanen waren hier und haben ihre Spuren hinterlassen, siehe Moschee von etwa 1430 und osmanischem Bad ausm 16. Jahrhundert. Im zweiten Weltkrieg dann die Sowjets, die in den 50ern auf einem der sieben Hügeln eine gewaltige heroische Soldatenstatue platziert haben, die heute noch die Stadt überblickt. Kurz: Plovdiv hat viel Geschichte zu bieten. Dazu liegt es an einem der zwei großen Flüsse Bulgariens, der Maritsa, hat viele Parks, und das aufstrebende Künstler*innen-, Café- und Hipsterviertel "Karana". Obendrein ist es - neben Matera in Italien - Kulturhauptstadt Europas 2019.

Auf der anderen Seite kommt die Stadt mit einigen Brüchen und Irritationen daher:

Zwischenmenschlich: Bislang haben wir die wenigen Bulgar*innen, mit denen wir kurz gesprochen haben, z.B. am Thresen im Café, auf dem Markt, im Restaurant, in der Touri-Info mimisch und verbal als extrem sparsam erlebt. Lächeln oder Lachen, genauso wie Gespräche, die über ein knappes Fragen-beantworten hinausgehen, sind sehr schwer zu bekommen. Wir haben was davon gelesen, dass - ganz pauschal - respektvoller Umgang miteinander in Bulgarien hoch gewertet wird. Velleicht sind Wortarmut und Mimikminimalismus eine Art einander Respekt zu zeigen? Vielleicht ist die Mentalität in Bulgarien aber auch tendenziell etwas herber oder erstmal abwartend-beobachtend. Andererseits - um die Verwirrung positiv zu wenden - wird man definitiv in Ruhe gelassen und keiner wird einem mit hysterischem Gelächter oder lautem Geplapper stören.

Politisch:
Ich habe noch nie so viele Hakenkreuz-Grafiti und verwandte Runen-Grafiti gesehen wie hier. In sämtlichen Stadtvierteln. Einmal war groß "Race War" daneben gesprüht. Öfter steht 1912 daneben. Laut Wikipedia wurde 1908 das 3. Bulgarische Reich gegründet und 1912 begann Bulgarien gemeinsam mit Griechenland und Serbien den ersten Balkankrieg gegen das Osmanische Reich, in dem das Osmanische Reich weit zurückgedrängt wurde. Hat das 1912-Swastika-Grafiti damit etwas zu tun? Kein Plan. Vielleicht.

Vielleicht hat es auch etwas mit der nationalistischen rechtsextremen Partei Ataka zu tun, die 2005 gegründet wurde, um der wachsenden politischen Teilhabe der türkisch-muslimischen Bevölkerungsteile etwas entgegen zu setzen?

Vielleicht hat es aber auch etwas mit der großen Roma-Community in der Stadt und deren Diskriminierung in Politik und Medien zu tun. Neben zwei weiteren Vierteln, gibt es hier das bevölkerungsmäßig größte Roma-Viertel weltweit: Stolipinovo. An die 50.000 Menschen sollen hier laut meiner Recherchen diverser Websites unter miserablen Bedingungen leben: fließend Wasser nur aus Hydranten, überall Müll, keine nennenswerten Renovierungen der Plattenbauten seit 1989, dazwischen jede Menge illegale Hütten, viel Armut, eine Hepatitis-Epidemie in 2006. Einige Locals, die ich darauf anspreche, nennen es "the gipsy ghetto" und raten mir dringend davon ab dorthin zu gehen. Das Viertel liegt 2-3 km vom unmittelbaren Stadtkern entfernt. Das Motto Plovdivs als Kulturhauptstadt Europas ist "Together" und das Konzept, mit dem sich die Stadt erfolgreich um diesen Titel beworben hat, zielte darauf ab, die Minderheiten der Stadt - also gerade auch die Roma aus Stolipinovo - mit in die Kulturveranstaltungen und als "Austragungsort" miteinzubeziehen. Die lokale Politik hat das nicht gewollt. Das Konzept, mit dem sich Plovdiv beworben hat, ist in seiner Umsetzung ausgehöhlt. So Focus online.

Dazu kommt die Flüchtlingspolitik des Landes. Amnesty International schreibt dazu in seinem Jahresbericht von 2018 etwas von sich weigernden Kommunen und Städten Flüchtlinge aufzunehmen, Zurückweisungen und Gewalt der Grenzpolizist*innen, mangelndem Zugang zu Wohnraum, Sprachunterricht und Arbeitsplätzen. So hat Bulgarien laut Amnesty 2018 keinen einzigen syrischen Flüchtling aus der Türkei aufgenommen - obwohl es sich im EU-Türkei-Abkommen dazu verpflichtet hatte 100 Menschen aufzunehmen. In Plovdiv schlägt sich das für uns sichtbar nur in "Refugees-not-welcome"-Stickern nieder.

Wirtschaftlich:
Vielleicht hängt das alles am Ende auch mit der wirtschaftlichen Situation zusammen. Bulgarien gilt als das ärmste Land in der EU. Das durchschnittliche Brutto-Monatseinkommen liegt laut Statista-Website bei 436 EUR. Auch wenn der Exodus kein Alleinstellungsmerkmal Bulgariens ist, sondern Thema mehrerer Balkanländer, sprechen die Zahlen Bände: Während laut Wikipedia 7,1 Millionen Bulgar*innen im Land leben, sollen laut Bulgarischem Radio BNR 2,5 Millionen im Ausland leben, 1,5 Mio davon in anderen Ländern der EU.

Plovdiv habe ich wegen alldem bislang vor allem als störrisch, spröde und auch erschütternd empfunden.