In ihrem TED-Talk aus dem Jahr 2009 (hier der Link) spricht die Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie über die Shortcomings einer einseitigen Sichtweise auf andere und anderes. Darüber, wie eine eingeschränkte Perspektive auf etwas oder jemand nicht unbedingt falsch aber arg verkürzt ist und der Komplexität einer Sache, Person oder Gruppe etc. nicht gerecht wird. Oder anders gewendet, darüber wie viel mehr oft hinter etwas oder jemand steckt als wir auf die Schnelle denken.

Mein Bild von der Mongolei war so eine Art persönliche single story als wir vor einem Monat herkamen: Schon lange vager Sehnsuchtsort aber auch gleichzeitig übelst schemenhaft. Platt gesagt: Tolle Landschaft, wenig Leute, Jurten.

In den vergangenen vier Wochen hat dieses Bild einige Facetten dazu gewonnen. Das haben vielleicht die letzten Blogeinträge schon gezeigt. Um auch die anderen Facetten beim Weiterreisen nicht zu vergessen, trage ich sie hier als lose Sammlung zusammen:

- Die Mongolei ist viel mehr als endlose grüne Hügellandschaften. Im Norden gibt es einige Seen, im Westen Gebirge, im Süden die Steinwüste und im Osten eine flache Ebene.

- Von den 3 Millionen Mongol*innen lebt nur ein Teil nomadisch. Unter ihnen gibt es verschiedene Ethnien, verschiedene Landschafts- und Vegetationstypen, in denen sie leben und verschiedene Tiere, die sie halten. Manchmal Rentiere, häufig Ziegen und Schafe, Kühe und Pferde, manchmal Yaks, Kamele und Büffel.

- In Südafrika und anderen Ländern des afrikanischen Kontinents spricht man von den Big Five. Die Mongolei hat seine eigenen Big Five: Pferd, Kamel, Schaf, Ziege und Kuh.

- Jurte ist nicht gleich Jurte. Je nach Ethnie variiert die Form und die Dekoration. Je nach Zweck und Wohlstand variieren ihre Größe und Ausstattung. Und wehe du trittst auf die Schwelle in der Eingangstür!
Im Norden gibt's statt Jurten Tipis.

- Die Mongolei ist reich an Bodenschätzen, wie Kohle, Kupfer und Gold. In der Wüste Gobi soll die Kohle nur 50m unter der Oberfläche liegen.

- In der Wüste Gobi wurden zahlreiche Dinosaurierskelette und Gelege ausgegraben. D.h. vor Millionen Jahren gab es hier ausreichend Grün und Wasser für Diplodocus, Triceratops und Co.

- Die Mongolei ist einer der größten Kaschmirproduzenten weltweit. Hauptabnehmer soll China sein. Die Ziegenherden, aus deren Brustfell die teure Wolle gekämmt wird, wachsen in den letzten Jahren. Da Ziegen die spärliche Vegetation nicht abbeißen, sondern beim Fressen ausreißen, liegt mehr Boden frei und verstärken sich Erosionsprobleme im Land.

- Die Lebenserwartung von Männern fällt deutlich niedriger aus als die von Frauen. Alkoholkonsum soll hierbei eine Rolle spielen. Häusliche Gewalt ist laut Studien wohl ein Problem, organisierte Kriminalität gäbe es hingegen quasi nicht.

- Vielleicht noch ein Erbe aus kommunistischer Propaganda: Zwar kriegen die Frauen hier nicht mehr wie in den 1960ern durchschnittlich zwischen 6-8 Kinder, aber der Schnitt liegt heute immerhin noch bei 2,6 Kindern je Frau.

- Politische Verfolgungen und Morde an Oppositionellen, Mönchen und Intellektuellen plus massenweise Zerstörung sämtlicher Tempel im Land im 20. Jahrhundert scheint kaum aufgearbeitet. Dafür fallen die Infos im nationalen Museum zu kurz aus und stehen immer noch Statuen von Männern in der Stadt, deren Lebensleistung für die Mongolei fragwürdig ist.

- Die Rockband 'The Hu" ist hier grad ziemlich angesagt und tourt gerade durch Europa, inkl. Deutschland. Hier zum Reinhören.

- Die Deutsche New Age Band Enigma hat 1994 Mongolische Volksmusik in zwei ihrer Songs integriert, The Eyes of Truth und Age of Loneliness. Einer der Songs wurde später für den Trailer von Matrix verwendet.

- Die Swastika ist ein allgegenwärtiges Symbol in der Mongolei, das hier meistens ein langes Leben symbolisiert, wurde uns erzählt. Nazis gibt es hier aber natürlich auch. Es war schwer in den letzten Wochen KEIN Hakenkreuz zu fotografieren, weil sie buchstäblich ständig überall sind. Hier wird es "Хас" (Chass, für mich klingt das Wort ironischerweise sehr nach "Hass") genannt und sind am Regierungspalast, an buddhistischen Tempeln, Schamanstätten, auf Linienbussen und Schmuck, genauso wie auf Kleidung und Tapeten zu finden. Es gibt sogar eine хас-Bank mit entsprechendem Symbol.

- Säuglinge werden mit einem blauen Fleck auf dem Po geboren, der innerhalb der ersten drei Lebensjahre immer kleiner wird und irgendwann ganz verschwindet. Keine Ahnung, was die Natur sich da ausgedacht hat.

- Die Ernährung ist grob gesagt das genaue Gegenteil veganer Ernährung. Es gibt fast ausschließlich Fleisch- und Milchprodukte, dazu etwas Kartoffeln, Weißkohl und Möhren.

- Das Fleisch ist locker so bio wie jedes demeter-Steak in Deutschland. Die Tiere laufen frei und kilometerweit durchs Gelände und suchen sich ihre Nahrung selbst. Nix Antibiotika. Verwertet wird am Ende alles. Von Hirn, Augen und Hoden (essen), über Fell und Haut (Klamotten, Peitschen, Schuhe), zu Milch (Butter, Joghurt, Käse, Airag) bis Knochen (Spielzeug) und Kacke (Heizen und Kochen).

- Innerhalb der Mongolei studieren kann man nach der 10. Klasse, d.h. die Erstis sind hier häufig erst 16 Jahre alt und können mit 21 schon praktizierende Ärzte*innen sein.

- Seit die mongolischen Supermärkte mit ausländischen Süßigkeiten überschwemmt wurden, ist Karies ein Riesenproblem geworden. Angeblich haben 95% aller Kinder hier Karies. Auf dem Land kommt aber teilweise nur alle 3 Jahre Mal der Zahnarzt vorbei.

- Ich habe noch nie so viele Knochen und tote Tiere in jedem Verwesungszustand gesehen wie in der Mongolei. Sie liegen einfach in der Landschaft. Der Tod scheint hier anders dazu zugehören als bei uns.

- Das Pferd - Symboltier für die Mongolei - steht für Stärke. Sein Fleisch wird nur im Winter gegessen, um sich dann die Stärke des Tieres selbst gegen die Kälte einzuverleiben.

- Der Tourismus boomt seit ca. 15-20 Jahren. Gastfreundschaft, Hilfsbereitschaft und Aufgeschlossenheit haben wir oft als etwas herb aber sagenhaft erlebt.