Ich lese gerade ein Buch von dem Historiker und Journalisten Rutger Bergman, das heißt "Utopien für Realisten". Darin geht's um Armut und Wohlstand, Arbeitsethos und Obdachlosigkeit, Lebenssinn und Lebensglück. Diskutiert werden so Sachen wie bedingungsloses Grundeinkommen, 15h-Woche und alternative Indikatoren zum Bruttosozialprodukt, um das Wohlergehen einer Nation zu messen.
Passenderweise sind wir gleichzeitig in einer der Hippieregionen Australiens unterwegs. Zugegeben nicht ganz zufällig: Wir waren neugierig, wie real gelebte Utopien aussehen und gelebt werden. In den 70ern gabs hier in Nimbin das Aquarius-Festival. Junge Leute feierten und protestierten (erfolgreich) gegen Abholzungspläne in der Region. Nimbin war damals ein aussterbendes Nest und während die meisten Hippies nach 10 Tagen wieder in ihren Großstädten verschwanden, blieben einige hier - for good. Das ist alles ewig her. Historisch scheint die Region eine Mischung aus lokalem Woodstock, Wendland und Hippieklischee für Touris. Es gibt eine Fülle an Läden, die Batikhemden, Kordhosen und Räucherstäbchen verkaufen. Überall Herzchen- und Blumengraffitis, Make Love Not war Sticker und regenbogenfarbene Gartenzäune. Darüber mag man Schmunzeln oder die Augen verdrehen und sich in seinen eigenen Vorurteilen bestätigt finden. Man sagt ja auch, an jedem Klischee ist zu Recht irgendwie was dran. Für mich ist es v.a. die Fassade, die Nimbin braucht, um als Touristenattraktion fortwährend Gäste anzuziehen und ergo Geld zu machen. Nimbin zieht aber nicht nur Touris an. Die Locals sagen, es wäre Kleineuropa, die Community sehr international. Auch der Aboriginieanteil scheint recht hoch zu sein. Nimbin ist der Ort, wo man zusammen mit einem riesigen blau-gelben Papagei auf dem Lenker herumradeln kann ohne aufzufallen. Nimbin ist der Ort mit einer Mischung aus umweltpolitischem Engagement, Permakultur- und Yogakursen, Handlesen und Verschwörungstheorien. Und a propos Verschwörungstheorien: Nimbin hat auch eine dunkle, kaputte Seite. Leute, die vermutlich auf irgendwelchen Drogen und/oder Alkohol backen geblieben sind, die grau und getrieben durch den Ort hirschen, ohne jemals Ruhe zu finden, die abgemagert und zahnlos vor sich hinstarren.
In diesem ganzen Gewirr gibt es eine Sache, die mich fasziniert: Wir sind auf unserem Roadtrip durch Australien durch viele kleine Orte gekommen. Nimbin ist der lebendigste. Auf der Hauptstraße wird gemeinsam Kaffee getrunken, erzählt und musiziert. Man kennt sich. Der lokale Bowlo-Club, manche der Läden und das Freibad sind gemeinschaftlich verwaltet und von Freiwilligen betrieben. Das Freibad kostet nicht mal was! Ein Segen für alle in der subtropischen Schwüle. Gerade sitzen wir - an einem Dienstagmorgen - in einem Café, indem ein paar Leute mit Banjo, Ukulele und Geige Musik machen, Eltern sich im Cafégarten treffen, um gemeinsam die Kids zu hüten und wem alles zu blöd oder zu warm wird, kann kurz Mal in den Bach hüpfen, der in der Nähe vorbeiplätschert. Zuviel heile Welt? Zu sehr Abtauchen in einer Blase? Vielleicht. Für ein paar Tage in diesem Vibe von Gemeinschaftssinn mitzuschwimmen fühlt sich aber ehrlich gesagt ziemlich gut an. Und auch wenn hier unter der Hippiefassade offensichtlich nicht alles rundläuft, finde ich es cool und anerkennenswert, dass sich hier vor 40-50 Jahren ein paar Leute ein Herz gefasst haben, um eine Utopie auszuprobieren und sie bis heute im Realexperiment zu leben.
Surprise! This site uses cookies (as any other), for example to save that you pressed that button. If you want to know more, see Data protection.