Wir sind los.
Am Ende war doch noch mehr für die Wohnungsübergabe zu tun als gedacht. Dazwischen immer noch mal Freund*innen und Familie treffen und tschüss sagen und letzte organisatorische Lücken stopfen, die wir in den letzten Wochen übersehen hatten. Mit Muskelkater vom Putzen in der Wohnung; schwerem Herz vom lieben Leuten tschüss sagen; einigen Orgaleichen, die wir von unterwegs aus zu lösen versuchen; einem Kofferraum voll Chaos aus Gepäck für die Reise, letzten Möbeln für Freund*innen und Sperrmüll für die Deponie gings los.
Irgendwie surreal. Völlig surreal alles.
Wir sind noch die totalen Newbies, was das Dauerreisen angeht. Freuen uns wie blöd über die neue Freiheit, den vielen Schlaf, die totale Entledigung von allen Routinen der letzten Jahre und die neue Entschleunigung. Wundern uns zugleich über uns selbst und was mit und um uns herum passiert, probieren aus und tasten uns voran. Nach einem letzten - inspirierenden und herzlichen Stop bei Freund*innen in Leipzig (Steffi! Franz! Herzlichen Dank nochmal für die yummy und gemütlichen Tage bei euch! Euer gelebter Minimalismus hallt immer noch nach.. ) haben wir Deutschland schon hinter uns gelassen. Einfach so. Tschüss zu Hause. Manche Dinge passieren einfach so - ohne großen Knall oder irgendwas. Zack. Grenze. Hallo Tschechien.
An den Ausläufern des Böhmischen Mittelgebirges, an der Elbe, in Litomerice, haben wir jetzt ein paar schöne Tage verbracht. Runterkommen. Realisieren: Nein, wir haben keinen Job mehr. Auch keinen Job. Familie und Freund*innen sind erstmal fern. Verantwortung? So gering wie schon lange nicht mehr. Freiheit? Ja! Einsamkeit? Not yet, aber potentielle Kehrseite von Freiheit. Ausschlafen. Und Zeit plötzlich zum Bücher durchschnurpsen, ausführlich Zeitung lesen, zum Rumlaufen und Staunen, zum Yogamachen und Meditieren, zum Spazieren und in der Sonne sitzen, ...
Aber, wie eigentlich überall in Europa, das alte Hase-und-Igel-Spiel: Egal, wo man hinkommt: Die Nazis waren garantiert auch schon da und für abscheuliche Verbrechen zu haben. In unmittelbarer Nähe liegt die Festung Terezin, ein Riesenteil von 17-hundert-irgendwas. In seinen Ausmaßen und ausgeklügelten Details zur Verteidigung von Prag (60 km südlich von hier). Die Nazis haben daraus im 2. Weltkrieg ein riesiges jüdisches Ghetto mit angeschlossenem Gefängnis gemacht - besser bekannt als Theresienstadt - konzipiert als Durchgangsstation in die Vernichtungslager im Osten. Auschwitz. Majdanek. Sobibor etc. Viel zu viele Menschen auf engstem Raum. Krankheiten. Zwangsarbeit. Tod. Selbstmord. Deportation. Die Zahlenangaben schwanken. Zwischen 150- und 190.000 Menschen wurden durch Theresienstadt geschleust, 35.000 starben hier, viele weitere bei den Massenerschießungen und in den Gaskammern im Osten. Heute ist die Festungsstadt wieder bewohnt.
Litomerice selbst ist wunderschön. Wie auch die Landschaft drumrum... Wir wurschteln uns sachte in diese selbstverordnete Wahnsinnsgelegenheit der Welt etwas näherzukommen.