Raymonda's fragwürdige Wahl
Ukrainisches Ballett in der Kiewer Oper
Gepostet von Judith
am 10.05.19
(10.05.19 Ortszeit)
(Tag 82)
in Ukraine
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Zugegeben, ich verstehe nichts von Ballett an sich. Ich finde es aus irgendeinem mir verborgenen Grund schön. Anna glücklicherweise auch. Und so kams, dass wir zwei in der Kiewer Nationaloper landeten. Alt, gediegen, prachtvoll das Gebäude von innen wie außen.
Das Stück hieß "Raymonda" - Eine Legende über eine Prinzessin zwischen zwei (potentiellen Ehe-)Männern. Eine Geschichte über Liebe, Untreue, Eifersucht, der schwerwiegenden Entscheidung sich für "den Richtigen" zu entscheiden und am Ende eine märchenhafte Hochzeit. Geschrieben vom russischen Komponisten Alexander Konstantinowitsch Glasunow. 1898 uraufgeführt in St. Petersburg.
Irgendwie gingen wir beide davon aus, dass dies weniger ein Stück modernen Balletts mit viel nackter Haut, zuckenden und schreienden Körpern werden würde, nachdem wir rätseln würden, ob wir den Plot richtig oder überhaupt verstanden hatten. Basierend auf unserem nebulösen Wissen von klassischem russischen Ballett wie Schwansee mit Primaballerinas in weißen Strumpfhosen und Tütüs, rechneten wir damit, dass das ukrainische Ballett einem ähnlichen Style folgen würde.
Da wir beide noch kein russisches Ballett wirklich erlebt haben, fällt der direkte Vergleich mit Raymonda in Kiew gleich mal flach. Der Theaterabend steht einfach für sich: Als im mäßig gefüllten Theatersaal die Lichter ausgehen, Musik aus dem Orchestergraben ertönt und sich der schwere rote Samtvorhang auf der Bühne hebt, enthüllt sich ein Bühnenbild wie ein Wimmelbild aus einem Kinderbuch. Es zeichnet eine Schlosskulisse auf die Bühne, wie aus dem zuckersüßesten klischeehaftesten Mädchentraum. Nichts bleibt der Fantasie überlassen. Die Tänzer und Tänzerinnen fädeln sich in ihren weißen Strumpfhosen und Tütüs in diesen Traum und in unsere Vorstellung von klassischem Ballett ein.
Ähnlich ausbuchstabiert wie das Bühnenbild ist auch die Story. 100 Prozent explizit. Sichergehend, dass wirklich alle im Saal zu jedem Zeitpunkt wissen, was Phase ist: Die Prinzessin begegnet auf einem Ball ihren beiden potentiellen Gatten - der eine ganz in weiß, den sie voreilig als the One auswählt. Als dieser sie verlässt, um im Krieg zu dienen und dort der Promiskuität nachgeht, begegnet sie Nummer zwei: Ein Sarazener in einem an naiven Rassismus grenzenden Kostüm aus glänzender Puffhose, überdimensionalem Paillettenschmuck auf nacktem Oberkörper und goldener Prinzen-Tiara. Stellt sich heraus, dass die beiden richtig gut miteinander können und die Prinzessin daher lieber ihn zum Gatten hätte. Aber bald schon kommt der Mann in weiß aus dem Krieg zurück, es kommt zum Duell in dem der Sarazener unter- und direkt auch erliegt. Und dann - bei aller Vorhersehbarkeit - das doch völlig absurde Ende: Die Prinzessin entscheidet sich glückerfüllt für den eifersüchtgien Mörder ihres Geliebten als ihren zukünftigen Ehemann - den Typen in weiß - und feiert mit ihm in der gesamten zweiten Hälfte des Stücks eine langatmige Traumhochzeit aus repetitiven Tanzeinlagen.
Als der Vorhang fällt, steht das Publikum klatschend auf. Immer wieder sind laute "Bravo!"-Rufe zu hören. Dann ist alles ganz schnell vorbei und alles läuft den Ausgängen entgegen. Während wir im Labyrinth dieses Hauses noch den Ausgang suchen, rätseln Anna und ich über die Take-Home-Message des Stücks: Was nur wollte Glasunow der Welt sagen?