Transsib.
Großer Mythos.
Auch Traum vieler da mal mit zu fahren.
Wir sind jetzt soweit.
Wir nehmen unser erstes Stück Transsib in Angriff:
Von Kazan in Tatarstan nach Novosibirsk in Sibirien. 2200 Kilometer. 4 Zeitzonen. 36 h Fahrt.
Ehrlich gesagt, ist nur ein Teil davon wirklich Streckenabschnitt der Transsib. Immerhin der Größere, zwischen Jekaterinburg und Novosibirsk.
Wir fahren 3. Klasse, d.h. keine 2-, 4- oder 6-Bettkabinen, sondern ein offener Waggon mit 40 Betten. Zwei davon sind unsere. Direkt übereinander und direkt am Gang.

In den Monaten vor unserer Reise haben wir uns über die Transsib belesen, Youtubevideos geschaut, mit Freunden und Verwandten gesprochen, die schon mit gefahren sind. Wir haben was von Jogginganzügen und Adiletten, von herzlicher Stimmung und Kartenspiel gehört und von Snacks, die an den Unterwegsbahnhöfen, durch die Zugfenster gereicht und gekauft werden können. Wir wissen, dass es nicht nur die eine, sondern mehrere Routen der Transsib gibt, dass ihr Bau ein ehrgeiziges Projekt war, eine ingenieurs- und organisatorische Herausforderung (oder pain-in-the-ass) und dass Tausende von Zwangsarbeitern(*innen?) eingesetzt wurden und viele von ihnen umkamen. Wir wissen, dass die Abfahrts- und Ankunftszeiten in allen Bahnhöfen stets in Moskauer Zeit angegeben werden, was über 7 Zeitzonen hinweg ziemlich verwirrend werden kann.

Ich hab meine Tasche so gepackt, dass ich schnell an schlafanzugartige Schlabber-Schlunzklamotten rankomme, sowie an Unterhaltungselektronik – also Handy samt Kopfhörer und Kindle – Bücher, Spiele, Kreuzworträtsel, Wechselunterwäsche und ein sauberes Paar Socken.

Handy, Kindle und Akku haben wir vorher voll aufgeladen und jeder von uns mehrere Filme, mehrere Staffeln verschiedener Serien, Podcasts und Bücher runtergeladen.

Wir haben vorher einkauft, wie ich es mir als alte Nachhaltigkeitsfanatikerin nie hätte ausmalen können: Maximaler Müllkonsum. Der Supermarkt direkt am Bahnhof scheint auf Langstreckenzugfahrten eingestellt zu sein, ich meine damit auf Lebensmittel, die deutlich leckerer werden, wenn man sie mit heißem Wasser aus dem Samowar aufbrüht. Z.B. Tütensuppen diverser Geschmacksrichtungen, Instantkartoffelpüree, Haferflocken mit Früchten etc. - alles jeweils abgepackt als Einzelportionen wahlweise mit viel Salz, Glutamat oder Zucker. Wir decken uns ordentlich damit ein, kaufen aber auch Zeug, wie Schoki, Nüsse und Obst, die sich als Stückgut gut mit anderen teilen oder verschenken lassen. Außerdem gibts für jeden noch eine Blechtasse.

Wir haben einen ultraneuen Zug erwischt,für jeden gibts Steckdosen und eine Putzfrau kommt mindestens 3x pro Tag durch. Es ist warm, um nicht zu sagen: heiß. Konstante 27 Grad, no matter what.
Den Gang entlang recken sich uns nackte Füße und lautes Schnarchen entgegen. Manche fahren hier schon länger mit. Der Zug ist vorgestern losgefahren und wird noch bis überübermorgen weiterfahren. In den nächsten 36 Stunden lullt er uns ein mit seinem permanenten Rauschen, Rattern, Schunkeln und Knarzen. Die Landschaft draußen ist mild aber monoton: saftige Wiesen, riesige gräserbestandene Sümpfe und Birken. Birken, Birken und nochmals Birken. Viele Dörfer liegen mitten im Nirgendwo und wirken zerfallen und verlassen – wie die russische Version von Westernkulissen. Mal klebe ich an der Scheibe und starre hinaus, um ja nichts zu verpassen, mal werfe ich nur einen kurzen flüchtigen Blick hinaus und denke mir: ist ja immer noch dasselbe. Zwischendurch: Schlafen, Essen und Netflix. Aber so richtig. Ich hatte beim Bingewatchen noch nie so ein leichtes und gutes Gewissen wie hier. Mu und ich fügen uns bestens ein, alle anderen im Wagon machens nicht anders. Ein großes Miteinander und Teilen entsteht nicht. Eher ein rücksichtsvolles Nebeneinander. An einigen wenigen Stopps gibt es Kioske. Mehr nicht. Niemand reicht etwas rein. Niemand wartet überhaupt mit Essen auf dem Bahnsteig. Der Zug ist eh so modern, dass sich die Fenster nicht öffnen lassen, um irgendwas hindurchzureichen. Ein Hoch auf die Tütensuppen. Ist das andere bloß Mythos? Romantik? Geschichten aus alten Zeiten?

Irgendwann verliere ich jedes Zeitgefühl. Wir sind buchstäblich alle hier, um Zeit tot zu schlagen. Die Monotonie des Fahrens, der enge Raum, die vorbeirauschenden Kilometer, die verschiedenen Zeitzonen, das arythmische und stets ein bisschen unbequeme Schlafen. Weil das Bett zu kurz ist, als dass man sich ganz ausstrecken könnte. Weil irgendwer laut einen fahren lässt oder schlimmer noch leise einen fahren lässt. Weil Leute zu jeder Tag- und Nachtzeit aus- oder zusteigen. Weil die Omi neben uns ununterbrochen erzählt. Weil die Gerüche vom Klo und von mehreren Tagen bloß Katzenwäsche durch den Waggon wabern. Weils heiß ist. Etc.

Um 9 Uhr Ortszeit kommen wir in Novosibirsk an. Nach Moskauer Zeit und unserer inneren Uhr der letzten Wochen aber ist es erst 5 Uhr. Ich steige bodenlos müde und – mir unerklärlich aber sehr real - übelst grumpy aus dem Zug. Armer Mu. Keine Ahnung, wie es einem geht, wenn man die Strecke Moskau-Peking in einem Stück durchfährt. Ich wäre wahrscheinlich ein absolutes Scheusal. Ein Zombie. Eine Vogelscheuche. Gut also, dass wir schon jetzt aussteigen und dass wir an unserem nächsten Etappenziel erstmal den Jetlag ausschlafen können. Und Duschen.